Ein Komponist am Rand des Ruhms, 300 Jahre alte Kantaten und ein Abend, der zeigt, wie lebendig Barock klingen kann.
„Meinen Jesum lass ich nicht“
Manchmal braucht es keine großen Jubiläen, keine festlichen Jahrhunderte oder barocken Marketingzauber, um ein musikalisches Ereignis anzukündigen. Es reicht ein Komponist, der zwar in den Büchern steht, aber in den Konzertsälen immer noch ein wenig um Aufmerksamkeit bittet. Johann David Heinichen, Dresdner Hofkapellmeister, einst europaweit bewundert, heute ein seltener Schatz. Am Mittwoch, dem 19. November 2025, um 17 Uhr, in der Annenkirche, bekommt er wieder eine Stimme. Eine deutsche, sehr genaue, sehr berührend.

Fundstücke aus Bokemeyer und Grimma
Nach den Konzerten 2021 und 2023 folgt nun Teil III des Projekts „Kirchenmusik auf deutsche Texte“. Der Anspruch ist hoch und erfreulich unprätentiös formuliert: Lücken schließen. Denn Heinichen, so zeigt die Forschung, war im deutschen Kirchenkantatenfach weit produktiver, als sein publiziertes Werk vermuten lässt. Die Sammlungen Bokemeyer und Grimma liefern das Material – nicht fabrikneu poliert, sondern archivarisch, handschriftlich und mit jener Patina, die Musikgeschichte so verführerisch macht.
17 überlieferte Kantaten stehen im Fundus. Entstanden zwischen kirchlicher Ordnung, barocken Metaphern und musikalischer Experimentierlust. Jetzt werden sie eingerichtet, aufgeführt und zum Klingen gebracht. Nicht als museales Objekt, sondern als lebendige mitteldeutsche Klangsprache zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Wer bislang glaubte, Bach und Telemann hätten ein Monopol auf den sakralen Tonfall, wird an diesem Abend angenehm zurechtgerückt.
Voraussichtliches Programm
„Ach was soll ich Sünder machen“
„Es lebet Jesus unser Hort“
„Gegrüßet seist du“
„Es naheten aber zu Jesu“
„Herr nun lässest du deinen Diener“
Schon die Titel verraten die barocke Dramaturgie: Sünde, Trost, Mariengruß, biblische Szene, Friedensbitte. Ein Panorama, das sich zwischen innerer Erschütterung und himmlischer Zuversicht bewegt. Heinichen besaß die Kunst, aus religiöser Pflicht musikalische Sinnlichkeit zu formen. Man darf gespannt sein, wie viel Glanz, Tränen und Licht in diesen Partituren schlummert.
Stimmen, die tragen
Die Batzdorfer Hofkapelle, stets historisch versiert und erfreulich unaufgeregt im Umgang mit barocker Virtuosität, übernimmt das instrumentale Fundament. Das Sächsische Vocalensemble bringt den vokalen Atem mit, der diese Kantaten überhaupt erst freilegt. Dazu Solistinnen und Solisten, die in diesem Repertoire zuhause sind:
Isabel Schicketanz (Sopran),
Stefan Kunath (Altus),
Stephan Scherpe (Tenor),
Felix Schwandtke (Bass).
Dirigent ist Matthias Jung, ein Mann, der das ernste Kirchenfach mit wacher Musikalität statt akademischer Schwermut anfasst. Gut so. Heinichen wurde zu Lebzeiten geliebt, nicht seziert.
Warum hingehen?
Weil Musikgeschichte nicht nur in Museen steckt.
Weil es Momente gibt, in denen sich ein lange verschlossenes Kapitel öffnet und man im Kirchenschiff spürt, wie warm 300 Jahre alte Töne klingen können.
Und weil die Annenkirche zwar bescheiden wirkt, aber akustisch ein fein gewebter Resonanzraum ist – ideal für Musik, die zwischen barocker Demut und persönlichem Bekenntnis pendelt.
Wer also im November ein Stündchen Zeit hat, findet hier nicht nur eine Aufführung, sondern ein Stück kulturelle Wiederentdeckung. Heinichen hätte es gefallen. Und uns darf es reizen.
